Bild - Geste - Ein-Bildungs-Kraft

Ein Versuch, der Paradoxie unseres Denkens

auf die Spur zu kommen

„Die Wissenschaft denkt nicht.“ Mit diesem Satz schockierte Heidegger in den 1950er Jahren seine Zuhörerschaft. Ich gebe Heidegger Recht: Wir verfehlen in der Tat den Kern unseres Denkens, wenn wir die in ihm verborgene Paradoxie nicht be-denken. Gewöhnlich tun wir so, als gäbe es einen vom Gedachten getrennten Denker. Wenn das Denken dann in Gestalt der Vernunft anfängt zu träumen, gebiert es, wie die Geschichte zeigt (und wie das berühmte Bild von F. Goya es anschaulich macht), Ungeheuer.

 

„The way of paradoxes ist he way of truth. To test reality we must see it on the tight rope“ sagt Oscar Wild; wir müssen die Realität prüfen, indem wir sie auf einem Seil tanzen lassen. Genau das will ich in dieser kleinen Skizze versuchen. Schlüsselbegriffe sind dabei die Begriffe Bild – Geste – Ein-Bildungs-Kraft.

 

 

 

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Zuvor aber ein – sehr hilfreicher – Blick auf Kant.

 

o      „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ (KrV A48).
Die „Synthesis“ zwischen dem Gedanken auf der einen Seite und dem „Mannigfaltigen der sinnlichen Anschauung“ andererseits ‚bildet’ sich (heute würden wir sagen: „emergiert“) im freien Zusammenspiel von Anschauen und Begreifen.
Sie ist „die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele, ohne die wir überall gar keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber selten nur einmal bewußt sind.“ (KrV A78)

 

o      Einbildungskraft (facultas imaginandi) ist „ein Vermögen der Anschauungen auch ohne Gegenwart des Gegenstandes“.
Sie ist „entweder produktiv, d. i. ein Vermögen der ursprünglichen Darstellung des letzteren (exhibitio originaria), welche also vor der Erfahrung vorhergeht; oder reproduktiv, der abgeleiteten (exhibitio derivativa), welche eine vorher gehabte empirische Anschauung ins Gemüt zurückbringt.“ (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Erstes Buch, Von der Einbildungskraft § 28).

 

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Mit „Ein-Bildungs-Kraft“ meine ich in diesem Text die zentrale Exekutivinstanz, besser: den lebendigen Kern der Operationen eines autopoietischen (beobachtenden) Systems (ob Lebewesen, Bewusstsein oder Gesellschaft), die bzw. der dafür sorgt, dass seine Bewegung punktgenau immer wieder in sich selbst eintreten kann (re-entry). Eigentlich ist das ein höchst unwahrscheinliches, fast mysteriöses Kunststück, weil ein autopoietisches System ja definitionsgemäß kein Wissen von seiner Umwelt hat, von ihr nicht informiert, sondern nur irritiert wird. Das System muss selber zusehen, wie es Irritationen in leb-bare Informationen verwandelt.

 

 

Das gilt auch für unser Denken, das ja auf einen Organismus angewiesen ist, der sich autopoietisch organisiert.

 

 

Die virtuelle „Kraft“, die Irritationen in Informationen verwandelt, nenne ich Ein-Bildungs-Kraft. In einer – als solcher unbeobachtbaren, weil paradoxen – „Technik der Natur“ (Kant) öffnet sie einen unbestimmten, aber bestimmbaren Raum möglicher Formen[1], in dem sich spontan lebende Systeme ausdifferenzieren und reproduzieren – purer, immer wieder neue Formen ‚bildender’ „Geist“. Er emergiert spontan in der agonalen (= asymmetrischen, aber nicht- orthogonalen) Begegnung mit der unbestimmten Umgebung eines lebenden Systems.

Es geht also beim Lesen und Schreiben dieses Textes um nichts weniger als um die paradoxe Aufforderung, sich selbst beim Denken zuzusehen. Der folgende Text mag daher – als ganzer gesehen – wie ein „endlos geflochtenes Band“ (D. Hofstadter) anmuten, wie eine seltsame Schleife, in die man schwer hinein- und ebenso schwer wieder herausfindet.

 




[1] Zu einem fundamentalen Begriff des Unbestimmten und der Evolution von Entscheidungs- und damit Zeichensystemen: Peyn, Ralf: uFORM iFORM, Heidelberg 2017.

 

 

Den ganzen Text finden Sie hier:

V Bild-Geste-EinBildungsKraft.doc
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