Die Kunst, kin-ästhetisch zu denken

Ohne zu verstehen, was genau wir da eigentlich tun und ohne zu sagen zu können, wo uns das einmal hinführen soll, haben wir damit angefangen, denkende Maschinen zu bauen und sie in unser Leben zu integrieren. Erschrocken sehen wir heute, wie gigantische Kommunikationswellen weltweit, zunehmend und ohne Rücksicht auf organisch gewachsene Strukturen ganze Lebenswelten um-, unter- oder gar wegspülen – mitsamt ihren überkommenen Orientierungsangeboten und Gewissheiten. Wirklichkeit wird für uns immer unübersichtlicher, intransparenter, nichts-sagender. Ihre Komplexität wächst in einem Maße, das unsere bisherigen kognitiven und emotionalen Denkmuster offensichtlich überfordert. Sie greifen ins Leere – ein offenes Tor für Populisten und ihre Verschwörungsmythen.

 

            Aber das bietet auch eine Chance: Mit denkenden Maschinen tritt uns erstmals in der Geschichte unsere spezifisch menschliche Form des Denkens nicht mehr in Form von Worten oder Texten gegenüber, sondern in gegenständlich-objektiver Form. Wir sehen uns mit der uralten Frage konfrontiert: Was heißt Denken? Und: was genau macht eigentlich menschliches Denken aus? Was unser Denken von dem von Tieren unterscheidet – damit beschäftigen sich Religion, Philosophie und Wissenschaft mehr oder weniger erfolgreich schon lange. Heute kommt nun – scheinbar unvermittelt – die Frage dazu, wie es sich von dem unterscheidet, was Maschinen tun.

 

Damit nimmt die Frage, was Denken heißt, aber eine vollkommen neue Wendung. Sie trifft uns nicht nur unvorbereitet, sondern auch unmittelbar und fordert daher auch zu unmittelbarem Antworten heraus. „Unmittelbar“ meint: hier ist unsere Originalität gefragt. Das lateinische Wort origo bedeutet „Ursprung“. Originalität meint die ultimative „Quelle“, aus der sich alles menschliche Tun speist und in die es umgekehrt – in verwandelter Form – wieder zurückkehrt und sie damit am „Fließen“ hält. Die Preisfrage lautet: Wie sollen, wie können wir uns diese seltsame „Quelle“ vorstellen? Ist überhaupt eine Denk-Form denkbar, die es erlaubt, sie in der erfahrbaren Wirklichkeit zu greifen?

 

Die Denk-Form, mittels derer wir bis heute Maschinen bauen und in unser Leben integrieren, kann das offensichtlich nicht. Sie folgt einer zweiwertigen Logik: etwas ist entweder oder es ist nicht – ein Drittes ist un-denkbar. Sie hat sich über Jahrtausende entwickelt, sich dabei immer mehr verfeinert und sich Schicht auf Schicht – als Ge-schichte – in unser Denkprogramm eingeschrieben, d. h. in den Ort, von dem aus wir uns Welt erschließen. Heute aber stößt diese Logik offensichtlich an ihre Grenzen. Wir müssen einen Schritt zurücktreten, uns selbst, unser Tun, sozusagen von außen betrachten, und uns mit Hannah Arendt fragen: Was genau tun wir eigentlich, wenn wir tätig sind?[1]  Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir unser Denken als integralen Teil unseres gesamten menschlichen Tätig-Seins sehen. Das heißt: Wir brauchen heute eine Denk-Form, die das Ganze menschlichen Tätig-Seins greift. Ich nenne sie kin-ästhetisches Denken.

 



[1] H. Arendt (1972): Vita activa oder Vom tätigen Leben.

 

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