Das Ungeheuer Skylla schnappt sich sechs Gefährten des Odysseus
Das Ungeheuer Skylla schnappt sich sechs Gefährten des Odysseus

Zwischen Skylla und Charybdis

Oder: Warum Krisen uns gewöhnlich von hinten anfallen

 

Eine Einladung zum Nachdenken über unser Denken

 

 

„Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt“ – sagt jedenfalls der Biologe Humberto Maturana, einer der Väter der Kybernetik zweiter Ordnung. Das klingt ähnlich wie die bekannte Aussage jenes Kreters, der sagte: „Alle Kreter lügen“. Maturanas Satz scheint in eine Tautologie zu führen. Mit dem Satz des Kreters dagegen landen wir in einer sich selbst blockierenden Aussage, einer Paradoxie: denn wenn es stimmt, was er sagt, dann lügt er; dann stimmt aber seine Aussage nicht mehr und er sagt die Wahrheit

 

Weshalb beginne ich einen Text über Krisen und über unser Denken mit solch scheinbar wirklichkeitsfremden Logeleien? Beide Aussagen markieren die äußersten Grenzpunkte menschlichen Wissens und Handelns.

          "Grenzen des Wissens" - das klingt heute eher nach Mittelalter, nach vor-aufklärerischem Denken. Dennoch: In unserer spätmodernen Welt, in der die Synergie von Geld und Technik sich grenzen-lose Ziele setzt, tun wir, so meine These, gut daran, uns das weitgehend verloren gegangene Wissen um die Grenzen des Wissens wieder neu zu erarbeiten, also über unser eigenes Denken nachzudenken.

          Homer hat den Zweifel an Gewissheiten vor beinahe 3000 Jahren in die Geschichte von Odysseus gekleidet. Odysseus passierte auf seiner Reise die Insel der Sirenen. Diese lockten die Vorbeifahrenden mit der Behauptung, sie wüssten „alles“, fraßen sie allerdings auf, wenn sie ihre Insel betraten. Odysseus überlistete sie bekanntlich. Er lauschte ihrem Gesang und kam trotzdem mit heiler Haut davon.

          Anschließend musste er sein Können als „kybernetes“ beweisen, d. h. als Steuermann: er musste das Kunststück fertig bringen, durch eine Meerenge hindurch einen Weg zwischen den beiden Ungeheuern Skylla und Charybdis zu finden, die beide jeweils eine Seite der Meerenge bewachten. Skylla war ein zähnebewaffnetes, sechsköpfiges Monster, das gnadenlos alles Lebendige auffraß, das ihm zu nahe kam. Charybdis dagegen war ein Ungeheuer auf dem Meeresgrund, dessen Eigenheit es war, immer wieder das Meer mitsamt Schiffen einzusaugen und brüllend wieder auszustoßen.

          Obwohl (oder vielleicht: weil?) Odysseus vorher dem Gesang der angeblich „allwissenden“ Sirenen gelauscht hatte, gelang ihm die Passage nur unvollkommen: während er angstvoll auf den gähnenden Schlund von Charybdis starrte, schnappte das Ungeheuer Skylla VON HINTEN zu und griff sich sechs seiner besten Leute.

          Was hat diese alte Geschichte mit uns zu tun? Es geht uns heute wie Odysseus: In einer Welt, die von sich aus keinen Halt bietet, müssen wir Orientierung und Halt in uns selbst finden. Und für einen solchen Halt bieten sich zwei unterschiedliche Optionen an, die beide – jeweils für sich genommen – in das Verderben führen.

  • Die eine Option ist, dass wir versuchen, die Welt so genau wie möglich zu erkennen, uns also an „objektive“ (= von uns selbst unabhängige) Tatsachen zu  halten. Wenn wir handeln wollen, droht dann die Gefahr, dass unsere „Tatsachen“ irgendwann anfangen, sich an anderen „Tatsachen“ zu reiben, d. h. dass wir in den inneren Widersprüchen und Paradoxien unseres eigenen Denkens stecken bleiben. Es geht uns wie Odysseus: Ehe wir uns versehen, hat das Ungeheuer Skylla uns schon von hinten gepackt.
  • Als Alternative bleibt nur, auf das Fest-Stellen von "Tatsachen" zu verzichten und uns für das Unbestimmte, Chaotische zu öffnen. Dann ist zwar im Prinzip Alles möglich, wir stehen aber mit leeren Händen da, unserem Erkennen fehlt jeglicher Anknüpfungspunkt – wenn wir handeln wollen, greifen wir ins Leere. Hier droht Charybdis: die Gefahr, dass es uns in einen Strudel von Beliebigkeit, Willkür und Chaos hineinzieht (logisch gesehen: in Tautologien).

Wie können wir als Beobachter diese Gratwanderung meistern? Ich behaupte: wenn wir heute nicht weiter blindlings von einer existenzbedrohenden Krise in die nächste stolpern wollen; wenn wir nicht wollen, dass uns die von uns selbst geschaffenen Monster von hinten anfallen; wenn wir vielmehr den Krisen der Moderne auf Augenhöhe begegnen wollen, dann sollten wir weniger darauf achten, WAS wir wissen, sondern mehr darauf, WIE wir wissen, was wir wissen. Und das heißt: zu beobachten, wie wir beobachten.

Was also ist der Beobachter, von dem Maturana spricht?

 

 

1.

Auch Tiere „beobachten“, wenn man so will. Wenn die Kybernetik zweiter Ordnung von „Beobachtern“ spricht, meint sie aber menschliche Wesen, d. h. lebende Systeme, die, im Unterschied zu Tieren, ihren Sinneswahrnehmungen und Vorstellungen nicht einfach blind folgen, sondern sie reflektieren und auf dieser Basis zu verlässlichen, anschlussfähigen Aussagen über Gegenstände oder Sachverhalte kommen, d. h. wirksam handeln können.

           Aber wie soll das möglich sein? Beobachtende lebende Systeme sind schließlich ein real existierendes Paradoxon:

* sie machen Aussagen über etwas Bestimmtes, über „Objekte“, „Sachverhalte“ etc.

* und tun dies zugleich als Teil eines Zusammenhangs, über den sie überhaupt nichts aussagen können.

In anderen Worten: ohne uns das klarzumachen, tun wir als Beobachter so, als könnten wir uns wie Baron von Münchhausen am eigenen Zopf aus dem Sumpf des Unbestimmten ziehen.

          Als menschliche Wesen („Beobachter“) haben wir es also mit zwei völlig unterschiedliche, sozusagen  Dynamiken oder auch Logiken zu tun, zwischen denen es keinerlei Verbindung zu geben scheint: mit einer Welt fest bestimmter / bestimmbarer Objekte auf der einen – und einer Welt, in der grundsätzlich „alles“ denkbar und möglich ist auf der anderen Seite. Dennoch schaffen wir ganz offensichtlich immer wieder das Kunst-Stück, beide auf einen Nenner zu bringen, und zwar „spontan“, d. h. fortlaufend und ohne Hilfe von außen, allein aus uns selbst heraus. Die Frage ist nur: wie?

Gewöhnlich gehen wir unsere Probleme mithilfe zweiwertigen Denkens an. Dessen grundlegende Logik lautet: Etwas IST oder IST NICHT. In dieser Denkweise steht ein erkennendes Subjekt – unvermittelt – einem gegebenen Objekt gegenüber und allen Aussagen lässt sich eindeutig einer von zwei Werten („wahr“ oder „falsch“) zuordnen. So zu denken garantiert uns eine Welt von Gewissheiten; Paradoxien z. B. sind dann ausgeschlossen.Wir blicken dann allerdings, um mit Gotthard Günther zu sprechen, auf eine Welt toter Objekte, auf eine Welt, in der zwar alles machbar scheint, in der aber kein Leben existiert.

           Dass sich die Frage nach dem Beobachter (dem menschlichen Geist) mit dieser Logik nicht lösen lässt, das kann man exemplarisch auch an einer Kippfigur studieren: Wir können ein Objekt (z. B. „alte Frau“) nur dann unterscheiden, wenn wir im Augenblick des Unterscheidens, also hier-und-jetzt, wie ein schlechter Zauberer alles Übrige unbemerkt unter den Tisch fallen lassen – unbemerkt sogar für uns selbst. Wenn wir dagegen „Alles“ sehen (= nichts unter den Tisch fallen lassen) wollen, dann verschwindet jegliche Unterscheidung und wir sehen letztlich „Nichts“.

          Anders gesagt: wenn wir verstehen wollen, wie „Beobachten“ – oder generell: menschlicher Geist – funktioniert, dann landen wir mit unserer gewohnten zweiwertigen Logik unausweichlich in Paradoxien bzw. Tautologien.

          Wenn wir keine bösen Überraschungen erleben wollen; wenn wir nicht wollen, dass die von uns selber geschaffenen Objekte zu Monstern mutieren und heimlich unsere Existenzgrundlagen zerstören, dann müssen wir einen Weg zwischen Skylla und Charybdis finden, das heißt: uns zu fragen, wie sich nicht-steuerbare Systeme steuern lassen…

 

2.

Kybernetik zweiter Ordnung schlägt daher vor, uns von der drohenden Paradoxie nicht abschrecken zu lassen und den Beobachter als einen fungierenden Widerspruch zu sehen, als die Einheit eines Unterschieds. Das heißt: die beiden Aspekte des klassischen Subjekt-Begriffs, Erkennen und Wollen (bzw. Handeln), zwar sorgfältig zu unterscheiden, zugleich aber die Möglichkeit ihrer Einheit, anders als Odysseus, keinen Moment aus dem Blick zu verlieren – und zwar ohne uns dabei in Paradoxien oder Tautologien zu verfangen.

Kybernetik zweiter Ordnung lädt also dazu ein, „Erkennen“ als wirksames Handeln zu sehen und nicht einfach mit dem Abbilden von „Objekten“ gleichzusetzen; es geht ihr um einen operativen Wissensbegriff. In anderen Worten: wir „haben“ nicht einfach nur Wissen, sondern wir generieren es; und zwar in der rekursiven Verknüpfung von Erkennen einerseits und Handeln andererseits (siehe hierzu auch die Grafik).

          Wir brauchen dann „keinen festen Bezugspunkt mehr (..), an dem wir unsere Beschreibungen verankern und mit Bezug auf den wir ihre Gültigkeit behaupten und verteidigen“ müssten (Maturana).

 Fortsetzung folgt demnächst

 

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