Theorie und Praxis der Kybernetik zweiter und dritter Ordnung

Die Kunst, nicht-steuerbare Systeme zu steuern

 

                                 Fassung vom 28. August 2014

Die Kybernetik trat historisch in dem Moment auf den Plan, als deutlich wurde, dass unser gewohntes kausales Denken angesichts der zunehmenden Komplexität unserer Welt an Grenzen stößt.

Kybernetik beobachtet daher nicht mehr "Dinge" oder "Tatsachen", sondern Unterschiede. Genauer: Unterschiede, die - für einen Beobachter - Unterschiede ausmachen.

Von "Kybernetik" spricht man, so eine Kurzdefinition Heinz von Foersters, "wenn Effektoren, wie z. B. ein Motor, eine Maschine, unsere Muskeln usw. mit einem sensorischen Organ verbunden sind, das mit seinen Signalen auf die Effektoren zurückwirkt. Es ist diese zirkuläre Organisation, die die kybernetischen Systeme von anders organisierten Systemen unterscheidet.“

 

Kybernetik ist eine Technik, die es erlaubt, chaotische, nicht kontrollierbare natürliche Dynamiken zu kontrollieren, d. h. so zu steuern, dass sie „automatisch“, also von selbst / spontan einen vorher eingestellten Wert (Eigenwert, Sollwert) anstreben und einhalten.         Das erinnert an die Definition Hegels für das Werkzeug als "List": es zwingt die Naturkräfte, "etwas ganz anderes zu tun, als sie tun wollten."

Das klassische Beispiel für dieses "Überlisten" von Naturkräften ist die Dampfmaschine; aber auch an einem Thermostaten oder einer ferngelenkten Rakete lässt es sich studieren.

Entscheidend dafür, dass die "List" gelingt, ist

a) dass ein Sensorium (das Unterschiede registriert) und ein Effektorium (das Unterschiede bewirkt) rekursiv und fortlaufend miteinander verbunden werden: ein bestimmter Zustand im Sensorium ruft dann einen bestimmten Zustand im Effektorium hervor, der wiederum einen neuen Zustand im Sensorium erzeugt usw.; und...

b) dass eine bestimmte, binär codierte Vor-Einstellung a priori festlegt, wann genau ein Unterschied einen Unterschied macht, d. h. wann das Sensorium die Regie übernimmt und den Kreislauf für die chaotische Dynamik schließt bzw. wann das Effektorium sich (und damit den Kreislauf) für die chaotische Dynamik öffnet.

Zugleich ist Kybernetik aber auch eine Erklärungsweise, mit der Beobachter Phänomene, die kausal nicht erklärt werden können, sich einfach und überzeugend erklären können (z. B. die Regelung der Körpertemperatur in einem Organismus).

Kybernetik zweiter Ordnung

ist nun jene Technik bzw. Wissenschaft, die darüber hinaus auch denjenigen, der den Sollwert einstellt, also den Beobachter selbst, aus dem Verborgenen hervorholt und ihn als Teil des Kreislaufs beobachtet. Dahinter steht eine bestimmte Haltung oder auch Grundentscheidung, nämlich die, dass wir menschliche Wesen - auch noch als reflektierende Beobachter - „immer schon“ (d. h. unhintergehbar) Teil dessen sind oder in das eingewoben sind, was uns als 'Welt' scheinbar objektiv gegenübertritt.

 Das Möbiusband - eine seltsame Schleife.

Man gelangt von einer Seite auf die andere,

ohne die Grenze zu kreuzen.

Das klingt paradox oder sogar tautologisch. Mit "List" und dem gewohnten zweiwertigen Denken *) kommt man hier nicht mehr weiter. Welchen Sinn könnte das also machen?

 

So könnte z. B. ein CEO, der eine Organisation steuert (oder zu steuern glaubt), dazu übergehen, sich selbst, d. h. seine Ziele und Pläne, sein Denken, Wissen und Handeln als ein untrennbares Element der Organisationsdynamik sehen, die er zu steuern versucht. Er könnte also beobachten, wie er die Organisation beobachtet – und sich somit grundsätzlich als Teil einer Welt zu verstehen, in der alles, was er tut, nicht nur ihn selbst, sondern auch alles Andere in unvorhersehbarer Weise verändert.

 

Eine solche Haltung erscheint einerseits sinnvoll und realistisch; denn wer kann schon von sich behaupten, alles im Griff zu haben? Aber sie ist auch bedrohlich: Sobald wir sie einnehmen, geben wir erst einmal jede Kontrollmöglichkeit aus der Hand. Denn nun scheint es keinen festen Bezugspunkt, keine stabile Basis mehr zu geben, von dem oder von der aus wir Systeme steuern könnten.

 

Kybernetik zweiter Ordnung lädt dennoch dazu ein, sich auf diese ungewohnte Perspektive einzulassen, weil unser gewohntes (zweiwertiges) Denken *) der Logik lebender Systeme nicht gerecht wird. Wir können natürliche Dynamiken nicht wie triviale (kontrollierbare) Maschinen behandeln und gleichzeitig glauben, wir könnten die mit einer solchen Haltung verbundenen Folgen negieren.

          „Die sich aus unserem traditionellen zweiwertigen Denken ergebenden Verstehensstrukturen sind bloße Abbreviaturen. Der volle Text der Wirklichkeit kann aus ihnen nicht abgelesen werden. Sie sind viel zu arm in ihrem relationalen Aufbau, um dem Reichtum der Realgestalten auch nur einigermaßen gerecht zu werden.“ (Gotthard Günther)

 

Wenn wir unsere Wirklichkeit nicht aus einer Haltung heraus begreifen wollen, mit der wir unbemerkt unsere eigenen Lebensgrundlagen zerstören, kommen wir heute nicht mehr umhin, uns auch mit selbstreferenziellen Logiken anzufreunden und uns von den dabei auftretenden (scheinbaren) logischen Ungereimtheiten nicht abschrecken zu lassen.

          Sich auf Kybernetik zweiter Ordnung einzulassen, heißt, sich zu fragen, wie sich nicht-steuerbare Systeme steuern lassen...

 

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  *)  eine Denkweise, die Objekt und Subjekt unvermittelt einander gegenüberstellt und dazu zwingt, jeder Aussage einen von zwei möglichen Werten zuzuordnen.

 

 

Die Systemtheorie

 

folgt heute überwiegend dem Ansatz von Niklas Luhmann; der Beobachter wird hier rein logisch begriffen, d. h. als ein Wesen aus bloßen Relationen, also ohne Körper und ohne Sinne.

          Die vielgerühmte (und unbestrittene) Erklärungskraft und Präzision dieses Ansatzes, das wird meist übersehen, wird allerdings durch einen blinden Fleck erkauft, und das ist der individuelle Beobachter, seine Körperlichkeit und seine Emotionalität. Dabei ist es wohl unser heutiges Grundproblem, dass uns der Sinn für den Unterschied zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem immer mehr abhanden kommt.      

          Luhmanns Ansatz kann Menschen nicht dafür sensibilisieren, ob bzw. wie sie durch ihr eigenes Handeln ihre Lebensgrundlagen entweder bewahren oder zerstören.

 

Der Ansatz von Humberto Maturana hingegen findet heute weniger Beachtung. Zusammen mit dem Physiker Heinz von Foerster sozusagen der Vater der Kybernetik zweiter Ordnung, versteht er den Beobachter im Spannungsfeld von Biologie einerseits und Sprache / Kultur andererseits. Das Muster, das Geist und Physis verbindet (siehe unten: "Mimesis und Technik"), ist bei Maturana erkennbar, wenn auch nicht explizit ausformuliert, denn dazu fehlt ihm ein Begriff von Gesellschaft, der wiederum bei Luhmann zu finden ist.  

          Anders gesagt: der blinde Fleck von Maturanas Ansatz ist die Gesellschaftlichkeit des Beobachters.

 

Also zwei Perspektiven nebeneinander?

Beide Perspektiven gegenwärtiger Systemtheorie verweisen wechselseitig aufeinander, haben aber keine beobachtbaren Berührungspunkte; jede verortet sich im blinden Fleck der jeweils anderen.

          Es wäre schon viel gewonnen, wenn sich innerhalb der Systemtheorie herumspräche, dass zwei – sich ergänzende – Perspektiven denkbar sind.

          Ein zweiter Schritt wäre es dann, zu sehen, dass die Suche nach dem Muster, das beide Perspektiven verbindet, auch notwendig ist, und zwar dann, wenn wir angemessene Antworten auf das  Koan der Spätmoderne ("Wie lassen sich nicht-steuerbare Systeme steuern?") finden wollen, d. h. Antworten, die uns nicht unversehens gleich wieder die nächste Umwelt-, Finanz- oder sonstige Krise präsentieren.

 

Ein Begriff von Mimesis und Technik

könnte sich als das missing link erweisen, d. h. als ein Denkansatz, der die beiden scheinbar disparaten Versionen der Systemtheorie wechselseitig anschlussfähig macht. Näheres dazu siehe auf dieser homepage

und auf meinem Blog Mimesis

 

Ich verbinde damit zugleich auch die Hoffnung, dass eine solche "mimetisch-technische Wende" die Systemtheorie für breitere Kreise interessanter und zugänglicher macht.

 

Die Ente als triviale Maschine
Die Ente als triviale Maschine

„Vielleicht darf man es als die wesentlichste Entdeckung der Kybernetik bezeichnen, empirisch-technisch festgestellt zu haben, dass es grundsätzlich unmöglich ist, die transzendentale Struktur der Wirklichkeit vermittels zweier alternativer Realitätskomponenten zu beschreiben.

Die sich aus unserem traditionellen zweiwertigen Denken ergebenden Verstehensstrukturen sind bloße Abbreviaturen. Der volle Text der Wirklichkeit kann aus ihnen nicht abgelesen werden.

Sie sind viel zu arm in ihrem relationalen Aufbau, um dem Reichtum der Realgestalten auch nur einigermaßen gerecht zu werden.“

Gotthard Günther in: Das Bewusstsein der Maschinen.

 

 

 

Im Folgenden finden Sie Texte, mit denen ich versuche, die Idee der Kybernetik zweiter Ordnung verständlich und nutzbar zu machen.