Digitalisierung
und das Auseinanderbrechen von Lebenswelten

Der entscheidende Punkt bei der Digitalisierung ist aus meiner Sicht die forcierte Entkörperlichung von Wissen(sgenerierung) und Kommunikation. Sie verstärkt das bereits seit Beginn der Moderne zu beobachtende Auseinanderdriften von Technik und Mimesis in bisher nicht gekanntem Ausmaß. Damit wächst die Verführung zu einseitiger, parasitärer Machtausübung bzw. umgekehrt zur ohnmächtigen Hinnahme solcher Konstellationen und droht, in eine Spirale von Sucht und Erschöpfung zu münden. Was meine ich mit „Technik“ und „Mimesis“? Und was heißt „auseinanderbrechen“?

          Wir übersehen leicht – und die Digitalisierung tut das Ihrige dazu – , dass Sprache Handeln ist, Sprach-handeln. Sprachhandeln ist (mit Maturana) ein Strömen, und ein irgendwie paradoxes noch obendrein: ein „Strömen in konsensuellen Koordinationen von konsensuellen Koordinationen von Verhalten.“ Das heißt, Sprachhandeln „strömt“ in zwei sich nicht überschneidenden Bahnen gleichzeitig, wobei aber erst beide zusammen den Unterschied machen, den Sprache macht. Man könnte z. B. von der Oberflächen- bzw. der Tiefenstruktur von Sprache sprechen; Heinz von Foerster spricht von Sprache als Erscheinungsform bzw. als Funktion. Ich schlage im Folgenden vor, von Technik und Mimesis zu sprechen. Unter ihrem technischen Aspekt erscheint Sprache als Monolog; sie macht Welt handhabbar, verleiht Macht über Menschen und Dinge. Unter dem mimetischen Aspekt wird Sprache zum schöpferischen, bereichernden Dialog mit Menschen und Dingen; Mimesis macht Welt verstehbar und bedeutsam. *)

          Das, was beide Bahnen letztlich immer wieder zusammenführt, ist das gegenseitig reflektierte (gespiegelte) Ko-Emotionieren zweier Individuen, die dadurch zu „Beobachtern“ (im Sinne der Systemtheorie) werden. Wenn man das versteht, versteht man auch, wie Sprache zum Medium werden kann, in dem sich psychisches, soziales und biologisches System ko-produzieren. Oder in anderen Worten: wie die Dyade zweier in-Sprache operierender Beobachter zu einem „Regulator dritter Ordnung“ wird, „der die Relationen berechnet, die den Organismus als Ganzheit erhalten.“

          Beide Aspekte, Technik und Mimesis, sind letztlich untrennbar, müssen aber dennoch sorgfältig unterschieden werden. Digitalisierung treibt die Trennung voran, macht sie überdeutlich sichtbar und spürbar, zerreißt gewachsene Lebenswelten. Wenn wir dabei nicht unversehens in die o. e. Spirale geraten wollen, müssen wir lernen, beide Aspekte noch sorgfältiger als bisher zu unterscheiden, ohne aber die Möglichkeit ihrer Einheit aus dem Blick zu verlieren. Nicht nur auf den praktischen Systemiker, auch auf die die Systemtheorie, soweit sie Systeme mit den Augen eines körperlosen Beobachters beobachtet, kommen damit neue Herausforderungen zu.

 

*) Die Unterscheidung handhabbar, verstehbar und bedeutsam übernehme ich von Antonovsky (1997). Sie korrespondiert mit den drei von Luhmann unterschiedneen Dimensionen von Sinn: zeitlich, sachlich und sozial. Eine nähere Bestimmung folgt weiter unten.

 

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Digitalisierung und die Entkörperlichung des Lebens
FASSUNG VOM 21.08. 2014
Sprache bewegt sich auf zwei unterschiedlichen Bahnen: Technik und Mimesis, Monolog und Dialog. Wir müssen beide sorgfältig auseinanderhalten, obwohl sie erst zusammen den Unterschied machen, den Sprache macht. Was beide immer wieder zusammenführt, ist das Ko-Emotionieren zweier Beobachter, die sich gegenseitig jeweils mit den Augen des Anderen sehen. Digitalisierung unterbricht diesen Zusammenhang erst einmal, zerreißt gewachsene Lebenswelten.
N Digitalisierung AB 21.8.2014.pdf
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