Kybernetik dritter Ordnung und die Synthesis des Bewusstseins

Die globale Digitalisierung unserer Lebenswelten zwingt uns, Bewusstsein als ganzes zu denken

Teil I  Die zwiespältige Natur von Technik (be-)greifen

Ich gehe in diesem Text auf einen Begriff ein, der es, wenn man so sagen darf, in sich hat: auf den von Gitta Peyn geprägten Begriff der Wirklichkeitsemulation.[1] „In sich“ hat er es, weil er hilft, die fundamentale zwiespältige Rolle zu verstehen, die Technik für das Mensch-sein spielt – für Mensch-sein überhaupt, ganz besonders aber für uns heutige Menschen in Zeiten der sogenannten (aber wenig verstandenen) „Digitalisierung“.

 

Seit jeher zwingen wir mit unserem in technische Artefakte eingebauten Wissen die „blinden“ Naturkräfte, unseren Zwecken zu folgen und nicht dem, was sie von sich aus täten; das gilt für den Faustkeil nicht anders als für den Computer. Dabei übersehen wir aber leicht, dass unsere Artefakte nicht aus sich selbst heraus wirksam sind, etwa weil sie magische Kräfte besitzen oder weil sie sog. „Naturgesetze“ anwenden, sondern nur, weil sie menschliche Fähigkeiten „ver-gegenständlichen“ oder „ver-körpern“. Das, was Mensch-sein bedeutet, nämlich das Vermögen, eine aus Sinn und Sprache gewobene Wirklichkeit hervorzubringen oder zu „emulieren“, verschwindet dann scheinbar spurlos in unseren technischen Artefakten. Wir verwechseln dann die Wirksamkeit technischer Apparaturen mit Wirklichkeit überhaupt, d. h. mit dem, was im Hintergrund wirkt und instrumentell grundsätzlich unverfügbar bleibt. Heidegger spricht daher von der „Seinsvergessenheit“ des Menschen. Das kann fatale Folgen haben, weil wir dann dazu tendieren, ohne es zu wissen oder zu wollen den Ast abzusägen, auf dem wir sitzen.

 

          Solange sich lediglich unsere physischen, später dann auch unsere intellektuellen Fähigkeiten in Technik vergegenständlichten, war menschliches Bewusstsein immer noch in der Lage, diesen Zusammenhang von außen zu beobachten, sich ihn kommunikativ zu erschließen und (z. B. mit sozialen Bewegungen) gegenzusteuern. Mit der globalen Digitalisierung von Kommunikation ändert sich das aber nun grundlegend: das kommunikative Generieren von Wirklichkeit lässt sich nun ebenfalls vergegenständlichen. Indem wir unsere Fähigkeit, in Kommunikation Wirklichkeit zu emulieren, auf Maschinen übertragen, erfahren wir auch unser Bewusstsein selbst als „Gegen-stand“, d. h. als etwas, das uns als Objekt gegenübersteht.

 

          Wirklichkeitsemulation birgt die Gefahr „totaler“ Entfremdung des Menschen von sich selbst (von totus = das Ganze). Zugleich birgt sie aber auch die Chance, die Bedeutung von Technik für das Mensch-sein von Grund auf zu erforschen, sodass wir bewusst mit ihr umgehen können, d. h. ohne ungewollt den Ast abzusägen, auf dem wir sitzen. Wir können lernen, unsere Begriffe so zu formen, dass wir uns in ihnen selbst wiedererkennen. Gerhard Stamer schreibt: „Über die Entfremdung der technischen Intelligenz führt der Weg zur Erkenntnis der eigenen, lebendigen Intelligenz. Angesichts der Intelligenz, die wir als fremde erfahren, kann nun die eigene bewusst werden.“[2]

 

Ich werde im Folgenden sagen, was Wirklichkeitsemulation aus meiner Sicht meint, worin die Schwierigkeit liegt, sie zu fassen und wie sich diese Schwierigkeit überwinden lässt: nämlich indem wir interdisziplinäres und systemisches Denken weiter entwickeln.

 

          Systemtheorie zweiter Ordnung (im Sinne von Maturana, Luhmann und Anderen) wäre im Prinzip genau dazu in der Lage, weil sie mit selbstbezüglichen Begriffen arbeitet: mit dem Begriff des „Beobachters“ und dem der „Autopoiesis“. Das Problem ist nur, dass sie – aus guten Gründen – unsere menschliche Wirklichkeit bis heute aus zwei unterschiedlichen, scheinbar diametral zu einander stehenden Perspektiven begreift: aus der Perspektive von Naturwissenschaft und Biologie (Maturana) und aus der von Soziologie / Psychologie (Luhmann). Wirklichkeitsemulation zu greifen erfordert nun aber eine Perspektive, die beide verbindet, eine Systemtheorie dritter Ordnung. Was könnte das heißen?

 

          Die Schwierigkeit beginnt damit, dass Viele sich bis heute nicht vorstellen können, wie eine Gesamtschau von „Biologie“ und „Soziologie“, von „Natur“ und „Geist“ zustande kommen soll, ohne dass das Denken sich dabei in Paradoxien oder Tautologien verfängt. Ein Neulektüre von Kant, so will ich zeigen, kann helfen, das zu vermeiden. Kant hat mit seinen drei Kritiken genau die Epistemologie formuliert, die wir brauchen, um Wirklichkeitsemulation zu greifen. Er hat diese Arbeit allerdings nicht zu Ende geführt und konnte das auch gar nicht, weil ihm noch kein Begriff von Gesellschaft zur Verfügung stand.

 



[1] https://carl-auer-akademie.com/blogs/systemzeit/2018/11/02/wirklichkeitsemulation-zum-begriff/

[2] G. Stamer (2018) Ich und Welt. Zur konstitutiven Rolle der Transzendentalen Apperzeption bei Kant, Hegel und Husserl, Norderstedt, S. 96. Hervorhebungen durch mich (F. F. ).

 

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