Mimesis und das Muster, das verbindet

von Franz Friczewski

Quelle: traumzeit-legenden.de
Quelle: traumzeit-legenden.de

 

Abstract

(Fassung vom 4. 9.  2013)

 

 

 

Wer den gegenwärtigen globalen und lokalen Krisen auf Augenhöhe begegnen will, dem bietet sich die Kybernetik zweiter Ordnung (oder auch „Systemtheorie“) als dafür geeigneter Denkrahmen an. Weil sie jede Epistemologie konsequent auf den „Beobachter“ gründet („Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt“), macht sie wechselseitig füreinander blinde Disziplinen (wie Physik, Biologie, Psychologie, Soziologie) im Prinzip untereinander anschlussfähig. Leider zerfällt sie bis heute selbst noch in zwei miteinander (scheinbar) nicht vereinbare Denkansätze: den des Biologen H. Maturana und den des Soziologen N. Luhmann. Für den einen ist der Beobachter nicht ohne einen Körper denkbar; für den anderen ist er ein körperloses Gedankenkonstrukt. Dieser Text ist die Suche nach dem verborgenen Muster, das die beiden scheinbar so gegensätzlichen Möglichkeiten, Systeme zu betrachten, verbindet. Und es gibt ihm einen Namen, nämlich Mimesis.

 

Mimesis geschieht, wenn Menschen ohne Rückgriff auf sprachliche Unterscheidungen, allein qua Mimik, Gestik, Stimme, Körperhaltung etc., auf Basis innerer Bilder ihr Verhalten koordinieren, auf diese Weise ihre inneren Bilder abgleichen und so eine gemeinsam geteilte, tragfähige gesellschaftliche Wirklichkeit „errechnen“. Sie verbinden dabei – wenn auch nur auf einer Von-Moment-zu-Moment-Basis – die beiden inkommensurablen, nicht aufeinander reduzierbaren, dennoch untrennbar miteinander verflochtenen Phänomen-Bereiche, in denen alle lebenden Systeme existieren: den Bereich, in dem sich ihre Körperlichkeit verwirklicht und den („geistigen“) Bereich, in dem sich ihr In-Beziehung-sein mit ihrer Umwelt verwirklicht. Das ist deshalb möglich, weil innere Bilder – die menschliche Ein-bildungs-Kraft – beiden Domänen gleichzeitig (!) angehören.

 

Sprache überdeckt das mimetische Geschehen, macht es weitgehend unsichtbar, nimmt es aber gleichzeitig auch in Dienst: Mimesis bildet den unsichtbaren Hintergrund  oder Kontext, der (scheinbar körperloses) Beobachten überhaupt erst ermöglicht. Ohne ihren mimetischen Kern würde jede Kommunikation sehr schnell kollabieren, d. h. entweder im Stillstand oder im Chaos enden. Denn mit der Bewegung unserer Hände und Füße, mit Mimik und Stimme nähren wir nicht nur unseren Organismus, sondern zugleich auch die Kultur, in der wir existieren – und damit unsere biologischen, psychischen und sozialen Ressourcen. Dennoch schenken wir der mimetischen Dimension unseres Denkens und Handelns gewöhnlich kaum Aufmerksamkeit.

 

Für die Menschen in archaischen Gesellschaften war es (bzw. ist es bis heute) noch selbstverständlich, dass sie ihre mimetische Kompetenz kultivieren müssen, wenn sie nicht ihre eigenen Ressourcen untergraben wollen. Spätestens seit Beginn der Moderne jedoch vermittelt sich gesellschaftlicher Zusammenhang primär durch solche Denkformen bzw. Medien, die (wie Wahrheit, Macht, Geld und Information) jede Art von Realität unter abstrakte Begriffe subsumieren und die Gültigkeit des mit bzw. durch sie erzeugten Wissens rein analytisch begründen, d. h. so, dass man sich den dazugehörigen mimetischen Kontext (scheinbar) verlustfrei wegdenken kann. Mimesis erscheint heute daher als ein eher überflüssiger Luxus, der in „unproduktive“ Nischen (Kunst, Kindheit) abgedrängt werden kann. Es spricht viel dafür, dass die gegenwärtigen Krisen zu dem Preis gehören, mit dem wir diese mimetische Verarmung bezahlen. Dafür, dass und wie wir damit unsere eigenen Existenzgrundlagen unterminieren, sind wir tendenziell blind und sehen nicht einmal, dass wir das nicht sehen. Der klassische Marxsche Begriff der „Entfremdung“ ist nach wie vor aktuell.

 

Die soziologische Systemtheorie thematisiert (jedenfalls bis heute) lediglich Beobachtungen erster und zweiter Ordnung, d. h. das „Wissen“ von Sachverhalten, das Beobachter dadurch gewinnen, dass sie – in Verfolgung je bestimmter Absichten – Unterscheidungen treffen, eine der beiden so entstehenden Seiten be-zeichnen (die andere, nicht-bezeichnete aus dem Spiel lassen) und dies dann – in der Form von Begriffen – fixieren. Die mimetische Dimension des Beobachtens (oder auch Beobachten dritter Ordnung) ist damit aber noch nicht erfasst: jenes absichtslose und begrifflich nicht fixierende Unterscheiden, bei dem der Beobachter und das Beobachtete spontan in-eins fallen, das die Matrix für Beobachten bereitstellt und es überhaupt erst anschluss-fähig und anschluss-sicher macht. Dass bzw. wie Menschen ihre eigenen Ressourcen reproduzieren (und gegebenenfalls destruieren), gerät der Systemtheorie daher erst gar nicht in den Blick

 

Mimetisches Beobachten kann unreflektiert (sozusagen im Modus des Autopiloten mitlaufend) oder auch reflektiert vollzogen werden. Unreflektiert gerät Mimesis leicht in den sog destruktiver Tendenzen.

 

Reflektiertes mimetisches Beobachten (sei es als Erkennen oder als Handeln) öffnet den Blick für den lebendigen, wenngleich paradoxen Kern des Beobachters, in dem sich Reales mit Imaginärem verbindet. „Imaginär“ nenne ich ihn, weil er „Geist“ und „Körper“ verbindet – die beiden inkommensurablen Phänomenbereiche. In seinem Kern ist der Beobachter daher ein „Un-Ding“, er „ist“ nicht in dem Sinn wie ein Ding oder Objekt, er liegt jenseits des Berechenbaren, ist zugleich aber – genau wie die imaginäre Zahl i in der Mathematik – etwas, womit sich real „rechnen“ lässt. Von „realem“ Kern spreche ich daher, weil er, und das ist der Witz der ganzen Geschichte, es Beobachtern aus Fleisch und Blut trotz alledem ermöglicht, gemeinsam eine tragfähige Realität zu er-rechnen.

 

Bewusste, reflektierte Mimesis realisiert bringt den imaginären Kern des Beobachtens ans Tageslicht. Dazu braucht es mindestens zwei Beobachter (Spencer-Brown: „Dieses Spiel geht nur zu zweit“), die auf Basis einer bestimmten inneren Haltung interagieren: „Ich bin Teil des Universums; wenn immer ich handle, verändere ich mich und das Universum mit mir.” (H. von Foerster) Der mimetische Beobachter übt sich darin, a) absichtslos zu beobachten, d. h. spielerisch, ohne besondere Zwecke zu verfolgen und b) nicht-bewertend, d. h. seine Unterscheidungen nicht begrifflich fixierend.

 

Eine andere Bezeichnung dafür wäre Achtsamkeit (mindfulness) oder auch „Aufmerksamkeit für das Muster, das verbindet“ (Gregory Bateson), d. h. eine Art ökologisch-ästhetischer Blick für „mehr Möglichkeiten“ (Heinz von Foerster); oder in anderen Worten: ein Blick dafür, wie eine schiere, ungeordnete Vielfalt sich spontan (= aus sich selbst heraus sowie von Moment zu Moment) und zugleich höchst präzise zu tragfähigen, überlebensfähigen Einheiten ordnet.

 

Diese Art von Aufmerksamkeit oder auch: physisch-geistige Präsenz könnte der Schlüssel sein für einen angemessenen Umgang mit den Krisen der „nächsten Gesellschaft“ (Dirk Baecker).

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