Karl Marx,

das "Kapital"

und die

Kafka'sche Strafkolonie

Gibt es überhaupt so etwas wie „die Gesellschaft“? Das, was wir Gesellschaft nennen, ist in der Tat boden-los. Gesellschaft ist Produkt unseres eigenen Handelns – und erscheint uns dennoch als etwas unabhängig von uns Existierendes, als „immer schon da“ und tritt uns in Gestalt etwa von Machtapparaten oder Finanzinstitutionen fremd gegenüber. Krisen scheinen uns dann von hinten anzuspringen.

 

Bis heute hat das niemand so genau beschrieben wie Karl Marx: als Entfremdung des Menschen von sich selbst, von seinen Produkten und von seiner (inneren und äußeren) Natur. Wenn wir den Krisen des Spätkapitalismus „auf Augenhöhe“ begegnen wollen, dann kommen wir – auch noch 150 Jahre nach dem Erscheinen von „Das Kapital“ – nicht an Marx vorbei. Ich möchte mich hier aber nicht mit der Frage beschäftigen, warum das so ist (das wäre noch mal ein Extrabeitrag). Statt dessen will ich hier die Frage erörtern, was genau eigentlich der unreflektierte blinde Fleck bei Marx war, der letztlich in die Barbarei führte, und vor dem wir uns hüten müssen, wenn wir heute an sein Denken anknüpfen möchten.

 

Moral oder Ethik?

 

Zunächst schlage ich vor, ganz einfach „Ethik" und „Moral" zu unterscheiden.

 

Moral hat die Form eines "Du sollst" und bleibt etwas dem Mensch-Sein Äußerliches, denn es stellt sich immer die Frage „Wer sagt das?“ In der Sprache der Kybernetik zweiter Ordnung könnte man sagen: Moral wird von einem Beobachter zu einem anderen Beobachter gesagt (der er auch selber sein kann). Mensch-Sein heißt Beobachten; und Beobachten braucht blinde Flecke, um zu erkennen. „Blinder Fleck“ heißt: nicht wissen, dass man nicht weiß – was man wiederum entweder wissen oder nicht wissen kann.

 

Kants Moral (meist als „Ethik" bezeichnet) ist sein kategorischer Imperativ. Er ist logische Folge des Freiheitsbegriffs, der wiederum dem Naturbegriff zunächst äußerlich-abstrakt und unvermittelt gegenübersteht. Kant weiß um den blinden Fleck seines Imperativs.

 

Ethik dagegen ist die Haltung oder der (selber unaussprechbare) implizite Hinter-Grund oder auch Kontext, aus dem eine bestimmtes Wissen erwächst. Ethik zeigt sich lediglich; sie lässt sich – so auch Wittgenstein in 6.421 Tractatus l. ph. – nicht aussprechen. „Ethik und Ästhetik sind Eins". Ethik ist transzendental.

 

Kants Ethik findet sich in seiner Kritik der Urteilskraft. Sie gründet in seiner Ästhetik (Gemeinsinn) und gipfelt schließlich in dem unbestimmten (imaginären) Vernunftbegriff des "übersinnliches Substrats“ (der Menschheit bzw. der Natur). Wer Kants Kritiken bis zu diesem Punkt (m. E. der Schlussstein des Gebäudes der drei Kritiken) gelesen und seine Intention verstanden hat, der weiß von selbst, wie er zu handeln hat, es braucht ihm niemand "Du sollst..." zu sagen. Kants Ethik ist ein Wissen, das als Ge-Wissen dienen kann.

 

Die Frage ist dann: welche unausgesprochene Ethik liegt der Marx’schen Philosophie (und Marx ist Philosoph) zugrunde? Meine These ist, dass Marx’ Denken (aus heutiger Sicht, hinterher ist man immer klüger) einen riesigen unreflektierten blinden Fleck aufweist. Und dass er (von seinen Nachfolgern ganz zu schweigen) sich daher über die fatalen ethischen Implikationen seiner Theorie nicht im Klaren war.

 

Während Kant noch davon ausging, dass sich das, was das Mensch-Sein ausmacht, das Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Freiheit, nicht mit den Werkzeugen des Verstandes bestimmen lässt, glaubte Marx (im Anschluss an Hegels Dialektik), es ließe sich auf den Begriff bringen, gesetzmäßig begreifen. Das unverfügbare individuell-schöpferische, Moment, das der menschliche kommunikative Austausch braucht, um auf nährende Weise mit dem Leben verbunden zu bleiben, verschwindet so aber unreflektiert im blinden Fleck des Beobachters. Damit ging Marx (und all denen, die ihm folgten, von Lenin über Stalin bis Mao) zwangsläufig der Blick für den schöpferisch-spielerischen, lebendigen Kern des Mensch-Seins verloren. Ohne ihn wird Gesellschaft entweder zum Heidegger’schen „Ge-stell“ (so die Gefahr im Kapitalismus) oder zur Kafka’schen „Strafkolonie“. Der GULAG lässt grüßen. Was eine Theorie ist, zeigt sich in der Praxis.

 

Die Bodenlosigkeit des Mensch-Seins aushalten

 

Wenn wir das nicht wollen, wenn wir also das Unverfügbare des Mensch-Seins einkalkulieren, dann haben wir aber erst mal ein Problem. Denn dann werden Gesellschaft ebenso wie das individuelle Selbst für unseren erkennenden Geist zu einem ein boden-losen Prozess („ein selbstreferenzieller Operator von unendlicher Tiefe“, Heinz Von Foerster) und es verschwindet jede Chance, den Gesellschaftsprozess, bzw. das menschliche Sein überhaupt, mit instrumenteller Vernunft in den Griff zu bekommen.

 

Man kann diese Einsicht entweder als bedrohlich oder als Chance begreifen.

 

In der Moderne wird den Menschen diese ihre Bodenlosigkeit erstmals voll bewusst. Das Grundgefühl der Moderne ist daher Unruhe. Wer ihr auf den Grund geht, trifft auf etwas, was man mit Francisco Varela „die kartesianische Angst“ nennen könnte. „Kartesianisch“ deswegen, so Varela, weil es Descartes war, der sie erstmals rückhaltlos offen schilderte. „Diese Angst entspricht einem Dilemma: entweder unsere Erkenntnis hat eine feste, stabile Grundlage und einen ruhenden Ausgangspunkt, oder wir geraten in Dunkelheit, Chaos, Verwirrung. Kurz, sofern es keine absolute Basis gibt, bricht alles auseinander.“

 

Marx und die, die ihm folgten, waren offenbar nicht bereit, sich dieser Angst zu stellen.

 

Welche Denk-Alternativen haben wir? Wie lässt sich an Marx’ Intention anknüpfen, alle Verhältnisse umzustürzen, in denen der Mensch ein ausgebeutetes, verächtliches Wesen ist, ohne zugleich der Inhumanität verborgene Einfallstore zu öffnen? An die Leibniz’sche prästabilierte Harmonie glauben wir heute nicht mehr, denn Gott ist längst tot. Der technischen Machbarkeit trauen wir aber mittlerweile ebenso wenig.

 

Wenn wir der Bodenlosigkeit des Menschs-Seins gerecht werden wollen, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als in unserer Epistemologie, d. h. in der Art und Weise, wie wir das erzeugen, was wir unser „Wissen“ nennen, bewusst eine offene, unverfügbare Mitte zu lassen. Ein Wissen, das implizit zugleich als Ge-Wissen dient. Der ebenso große wie bescheidene Kant hatte bereits die erkenntnistheoretische Grundlage dafür gelegt. Im Zeitalter des gesellschaftlichen, ökonomischen und technischen Fortschritts war dann eine solche Bescheidenheit nicht mehr so gefragt.

 

Erst die Philosophie und Erkenntnistheorie des 20. Jahrhunderts, angefangen von der Phänomenologie über Martin Buber und Heidegger bis hin zur Kybernetik zweiter Ordnung, hat Denkmethoden erarbeitet, die es möglich machen, dem unverfügbaren Kern des Menschseins eine konstitutive Rolle zuzusprechen.

 

Was Marx verstanden hat

 

Was Marx verstanden hat – im Gegensatz zum seins-vergessenen Mainstream der heutigen Soziologie und Ökonomie –, das ist die paradoxe Konstitution des Mensch-Seins:

Man kann nicht von Gesellschaft sprechen, ehe sich nicht autonome, reflektierende Individuen herausgebildet haben – ebenso wie man umgekehrt aber auch nicht von Individuen sprechen kann, ehe sich ein von individuellem Handeln unabhängiger, stabiler Gesellschaftsprozess etabliert hat.

 

Es ist der kommunikative Austausch (sei es zunächst per Sprache, dann aber auch durch andere Medien wie Macht oder seit 2500 Jahren auch und vor allem Geld), der dieses paradoxe Koan löst – und zwar operativ-praktisch, „hinter dem Rücken“ der Akteure. Symbolisiert durch Dinge (wie Geld als real existierendem Tauschwert) bildet er das neutrale (und transzendentale) Medium, das die beiden so unterschiedlichen Seiten des Mensch-Seins überhaupt erst als unabhängig von einander existierend denkbar und möglich macht.

 

Geld (bzw. dann auch Kapital) ist also nicht einfach nur ein bequemes Tausch- (bzw. Produktions-)Mittel, es konstituiert Gesellschaft. Weil sich der Austauschprozess aber hinter unserem Rücken verwirklicht, für uns also nicht greifbar ist, ist er – und damit unser ganzes Mensch-Sein – für uns boden-los. Gesellschaft ist Produkt unseres eigenen Handelns – und erscheint uns dennoch als etwas unabhängig von uns Existierendes, als „immer schon da“ und tritt uns wie ein Leviathan in Gestalt etwa von Machtapparaten oder Finanzinstitutionen fremd gegenüber. Krisen scheinen uns dann logischerweise nur noch von hinten anzuspringen. Bis heute hat das niemand so genau beschrieben wie Karl Marx: als Entfremdung des Menschen von sich selbst, von seinen Produkten und von seiner (inneren und äußeren) Natur.