Odysseus und die Sirenen (H. Draper 1909)
Odysseus und die Sirenen (H. Draper 1909)

Der Gesang der Sirenen versprach den vorüber fahrenden Seeleuten All-Wissen und war unwiderstehlich. Wer ihre Insel betrat, wurde dann allerdings von ihnen verschlungen.

 

Odysseus überlistete die Sirenen bekanntlich, indem er sich selbst fest an den Mast seines Schiffs binden ließ, seinen Leuten aber befahl, ihre Ohren mit Wachs zu verstopfen. So konnte er dem Gesang vom All-Wissen lauschen, ohne die Folgen tragen zu müssen.

 

Die Figur des "listenreichen" Odysseus lässt sich als das Ur-Bild des - an "die Technik" glaubenden - modernen Subjekts lesen: die Überlistung der Naturkräfte durch die Trennung von Wahrnehmen und Bewegen bzw. Erleben und Handeln. Sie kommt in diesem Bild sehr schön zum Ausdruck.

 

Technik, Mimesis

und der Körper des Beobachters

Ein neuer Blick auf die Systemtheorie

 

 

von Franz Friczewski

Was macht das Lebendige aus? Was genau unterscheidet lebende Systeme eigentlich von nicht-lebenden, also z. B. von Robotern oder von Computern? Diese Unterscheidung ist uns im Verlauf der Moderne zunehmend verloren gegangen. Wir sind es heute gewohnt, in lebendige Phänomene – in Organismen, menschliches Bewusstsein, Wirtschafts- und Sozialsysteme, ja sogar in Ökosysteme – das logische Raster trivialer Maschinen hineinzulesen. Wir behandeln Lebendiges wie tote Objekte und glauben, die Folgen vernachlässigen zu können.

          Wenn wir nicht wollen, dass wir im Zuge unserer sich globalisierenden Welt weiterhin unsere eigenen Lebensgrundlagen zerstören, dann kommen wir nicht mehr umhin, uns die Frage nach dem Unterschied zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem auf eine grundlegend neue Weise zu stellen.

          Aus Sicht der Systemtheorie (oder auch „Kybernetik zweiter Ordnung“) sind lebende System „autopoietische“ Systeme, d. h. sie bringen sich von Moment zu Moment selbst hervor. Wenn wir dieses Geschehen aber „be- greifen“, d. h. sprachlich fassen wollen, dann müssen wir zwei letztlich untrennbare Seiten sorgfältig auseinanderhalten: Wir müssen lebende Systeme in zwei unterschiedlichen (sich nicht überschneidenden), sich in ihrer Verwirklichung gleichwohl gegenseitig voraussetzenden Phänomenbereichen gleichzeitig verorten: in dem Bereich, in dem sich ihre KÖRPERLICHKEIT verwirklicht (ihre Physiologie) und in dem Bereich, in dem sich ihre Möglichkeiten verwirklichen, ihr IN-BEZIEHUNG-SEIN.

          Beide Seiten lassen sich natürlich ohne weiteres kurzschließen – genau das tut die moderne, analytisch-technisch operierende Wissenschaft, und das tun wir mittlerweile auch in unserem Alltag. Daran ist im Prinzip nichts Falsches, schließlich können so Naturkräfte in den Dienst menschlicher Zwecke gestellt werden. Problematisch wird das erst dann, wenn uns das, was das Lebendige ausmacht, also die Einheit der beiden Seiten, nicht nur für den Moment, sondern grundsätzlich-systematisch aus dem Blick gerät. Denn dann sind wir blind dafür, wie wir durch unser eigenes Handeln die eigenen Lebensgrundlagen zerstören.

          Wie aber können wir die Einheit beider Seiten im Blick behalten? Das ist ein Problem, weil wir als menschliche Wesen grundsätzlich Beobachter-in-Sprache sind, also beobachtende lebende Systeme. Als Beobachter existieren wir ausschließlich in dem zweiten Bereich. Diesen Bereich können wir nie verlassen; denn „alles, was gesagt wird, wird von Beobachtern gesagt“ (Humberto Maturana) – und trotzdem müssen wir es irgendwie schaffen, so zu „beobachten“, dass wir dabei nicht hinterrücks die Einheit beider Seiten hintertreiben und unsere eigenen existenziellen Grundlagen in Frage stellen. Das heißt, wir müssen heute lernen, wieder den Sinn, die Aufmerksamkeit für das „Muster, das verbindet“ (G Bateson) zu entwickeln und zu kultivieren.

 

Was also sind oder besser: was tun eigentlich „Beobachter“? Beobachter verwirklichen ihre Autopoiesis, indem sie – im Unterschied zu Tieren – ihren inneren Bildern nicht blind folgen, sondern sie reflektieren und auf diese Weise zu – sachlich, sozial und zeitlich – kohärenten Aussagen kommen, auf deren Basis sie dann wirksam handeln können. Wirksam handeln heißt: sein Handeln an Zwecken ausrichten und mit Anderen koordinieren, ohne dabei die Möglichkeit der Autopoiesis unbemerkt (hinter dem eigenen Rücken) zu untergraben.

          Wie soll das aber möglich sein? Wie sind beobachtende lebende Systeme überhaupt möglich und denkbar? Die Systemtheorie hat sich dieser Frage bis heute nicht wirklich gestellt. Die beiden Ansätze gegenwärtiger Systemtheorie betrachten „das Lebendige“ aus zwei konträren Perspektiven: die eine (Maturana) von seiner körperlichen, die andere (Luhmann) von seiner Beziehungs-Seite her. Beide verweisen wechselseitig aufeinander, haben dabei aber keine beobachtbaren Berührungspunkte; jede verortet sich im blinden Fleck der jeweils anderen. Es wäre schon viel gewonnen, wenn sich herumspräche, dass zwei – sich gegenseitig ergänzende – Perspektiven denkbar sind.

          Ein zweiter Schritt wäre es dann, zu sehen, dass die Suche nach dem Muster, das beide miteinander verbindet, auch sinnvoll ist, weil wir erst dann nämlich den Krisen der sich globalisierenden Welt auf Augenhöhe begegnen können, d. h. so, dass uns die jeweilige Lösung nicht gleich wieder die nächste Umwelt-, Finanz- oder sonstige Krise präsentiert.

 

Im Folgenden stelle ich Texte zur Diskussion, die dazu beitragen sollen, das verbindende Muster sichtbar zu machen.

          Ich gehe davon aus, dass Menschen als lebende Systeme gesehen werden können, die bewusst reflektieren (= beobachten). Was bedeutet das? Wie geht das zusammen? Ich versuche, diese Frage in drei Schritten zu beantworten:

 

1. Was „sind“ lebende Systeme; d. h. wie unterscheiden sie sich von nicht-lebenden Systemen? Was ist das Muster, das alle lebenden Systeme verbindet?

 

2. Wie unterscheiden sich bewusste von nicht-bewussten lebenden Systemen? Welches Muster verbindet alle bewussten lebenden Systeme?

 

3. Und schließlich: wie unterscheiden sich bewusst reflektierende (beobachtende) von nicht bewusst reflektierenden Systemen? Was ist das Muster, das alle beobachtenden lebenden Systeme miteinander verbindet?

 

 

Zweckmäßigkeit ohne Zweck - Gesetzmäßigkeit ohne Gesetz. Zur Logik der Autopoiesis lebender Systeme.
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Fassung vom 25. 6. 2014

In diesem Kapitel geht es um die Frage nach dem Muster, das alle lebenden Systeme, verbindet: vom Einzeller bis zum Menschen, bewusste wie nicht-bewusste, solche, die mit Sinn operieren und solche, die das nicht tun – und wie sie sich alle zusammen von nicht-lebenden Systemen unterscheiden.
Es geht also darum, die Logik, mit der alle autopoietischen Systeme operieren, begrifflich nachzuvollziehen.
Das Thema ist bedeutsam, weil uns heute der Sinn für das, was das Lebendige ausmacht, zunehmend verloren geht.
Es ist unvermeidlich abstrakt und ich versuche, es so anschaulich zu machen, wie das in dieser Kürze möglich ist.
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N zweckmäßigkeit ohne zweck.pdf
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